18 Mai, 2013

Tausend Augen

Wahrscheinlich ist es nur eine Verschwörungstheorie, aber ich hatte in der Vergangenheit immer wieder das Gefühl, aus einem einzelnen Filmbild den ganzen Film ablesen zu können. Als wäre in jeder Einstellung die ganze DNA schon enthalten.


Ein Bild aus Fritz Langs DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE (D 1960).

Mit dem Aufkommen von DVD und Netzvideos sind wir alle zu Röntgen-Ärzten des Kinos geworden. Wir haben den Durchblick, sehen den Schatten auf der Lunge. Das Bild dominiert uns nicht mehr, es ist kleiner als wir. Wir können es angreifen. Vor, zurück. Schneller, langsamer. Wiederholung, Überwachung. „Bildschirmfüllend” oder kleiner. Auf Youtube gibt es die Möglichkeit der Vorschau. Während man die eine Szene sieht, kann man prüfen, ob man die nächste sehen will. Wir warten auf die Bilder, die wir aus dem Trailer (oder der Videokritik) kennen. Wenn sie kommen, haken wir sie ab. Oft fühlen sich die Trailer-Höhepunkte verbraucht an. Wir haben fest im Blick, wie lange der Film noch dauern wird. Die Untertitel informieren uns – zu früh – darüber, dass er sie liebt und sie einen Anderen. Die Schauspieler spielen gegen das Libretto an, das wir mitlesen, mitsingen können. Aus der Tonebene wird Information. Wir verstehen, was die Musik mit uns machen soll. Wir hören den Film leise, weil die Freundin nebenan einen anderen Film sieht. Dann ruft jemand an. Gegen Ende des Films entwickelt sich eine Art Wettlauf zwischen Fortschritt des Balkens und der unvermeidlichen Auflösung. Oft denke ich: wie wollen sie in den paar Minuten noch zu einem guten Ende kommen. Und werde ungeduldig. Mein Bildschirm zwingt mich auch noch, mir selbst beim Sehen zu zusehen, in der Spiegelung. 

Ich kann mich nicht daran gewöhnen, das Erlebnis mit Analyse zu beschneiden. Und doch sehe ich viele Filme auf diese Weise. Ich kaufe mir Filme, will sie besitzen. Und weil sie geduldig im Regal stehen, höre ich mir dann doch den einen oder anderen Audio-Kommentar an. Und lasse zu, dass sich mein Eindruck mit Informationen anreichert, die mich nichts angehen. Oder ich sehe mir das verlogene Making-of an. Ist der Film neu, machen alle Werbung. Ist der Film älter, will niemand dem kanonischen Glück widersprechen. Gelegentlich profitiert der Filmemacher in mir (weil er etwas lernen kann), auf Kosten des Zuschauers. 

Man müsste wieder zurück. Ins Kino. Wo die Bilder Schicksal spielen. Aber die Werkzeuge der Distanzierung sind verführerisch. Oft weiss ich nach der „Lektüre” einer DVD, dass mir der Film gefallen würde, wenn ich ihn „richtig” sehen würde. Manchmal sehe ich mir im Kino an, was ich auf DVD gut fand, kann aber nicht vergessen, was ich schon weiss. Das Bild ist kontaminiert mit Interpretation.

Manche Kollegen, scheint mir, inszenieren schon im Hinblick auf den Audio-Kommentar. Der Schauspieler fragt den Regisseur: „Wie war ich?”, der Regisseur stellt dem Making-of Team die gleiche Frage. Zirkuläre Unterhaltung: der Film als Material für das Infotainment, das sich um den Film dreht. Über viele Filme lässt sich reden, ohne sie zu sehen. Die Produktionsgeschichte, Wirtschaftskrimi und Künstlerdrama, ist komplexer als die Handlung. Eine Meta-Falle, mit fliessenden Übergängen zum Klatsch. 


Es entsteht das Gefühl einer gewissen Enge.

1 Kommentar:

  1. Schöner Text. Und sehr wahr. Manchmal hilft aber auch das Kino nicht, selbst wenn man die DVD noch nicht gesehen hat. Gibt leider immer noch genug Faktoren, die einem auch den Kinobesuch auf ähnliche Art verleiden können. Pause nach drei Akten. Licht, das schon während der Main-On-End-Titles angeht (während man den Film noch in sich aufnimmt). Und zwischendurch vielleicht doch mal der Blick auf die Uhr - weil man ja hinterher noch was wichtiges machen wollte.

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