18 Dezember, 2012

Alles lebt

Ich habe mir heute LORE angesehen, von Cate Shortland. Mit dem Raubtierblick eines Kollegen, der ins gleiche Revier drängt (eines meiner nächsten Projekte spielt in thematischer Nachbarschaft), sass ich im winzigen Saal 4 der Hackeschen Höfe und habe Ausschau gehalten nach nützlichen Details. Das Folgende ist also weniger Kritik als „Beute”.

LORE erzählt von einem Mädchen aus gutem, bösen Hause – die Eltern scheinen direkt in die Vernichtungspolitik des NS-Staats verstrickt – das gewissermassen über Nacht in Verantwortung fällt und ihre jüngeren Geschwister quer durch die Besatzungszonen zur Großmutter bringen muss. Erwachsenwerden auf schwankendem Grund, 1945.

Shortlands Film geht einen stilistischen Weg, der im angelsächsischen Raum eine feste Tradition hat. Film ist hier eine Haut, die man sozusagen mit den Augen berühren kann; „Geschichte” wird aufgelöst in taktile Reizketten. Ein Sensualismus, der in erster Linie fotografisch ist. Übersaturierte Farben. Anschnitte. Unschärfen. Haut. Haare im Blau-Blau des Himmels. Blumen, Zweige, Gras: Windbewegt. Eine erstaunliche Variation an Stoffen und Dekor in der Garderobe der Notgemeinschaft.

Man könnte eine Linie zeichnen, quer durch die Filmgeschichte, von F.W. Murnau (SUNRISE, 1927) zu Tony Richardson (MADEMOISELLE, 1966), circa. Die Linie hat einen Knick. Der Knick heisst Werbung: Der Wunsch, alle Dinge zu beleben mündet in eine Ästhetik, mit der man alle Dinge verkaufen kann. Aber der fotographische Impressionismus lebt. Terrence Malick (DAYS OF HEAVEN, 1978), Philip Ridley (THE REFLECTING SKIN, 1990), Jane Campion (AN ANGEL AT MY TABLE, 1990) oder Andrea Arnold (WUTHERING HEIGHTS, 2011) könnte man nennen. LORE knüpft hier an.

Aus welcher Perspektive wird erzählt? Die sinnlichen Sensationen bleiben seltsam unverbunden mit dem Erleben der Hauptfigur. Die hat andere Sorgen als die Schönheit der Welt. Sie will überleben und muss zurecht kommen mit einem radikalen Wechsel ihrer moralischen Koordinaten. Trotzdem filmt Shortland die Leiche einer vergewaltigten Frau zum Beispiel wie ein holländisches Stilleben. LORE ist stark als Naturfilm. Die Ameisen machen sich gut auf dem roten Bein.

Was sich einstellt ist das Gefühl eines ästhetischen Pantheismus, der auf moralische Relativierung hinausläuft. Alles ist schön, scheint der Film zu sagen. Und: Alles ist grausam. Eine Frage des Maßstabs. Der Film plädiert für die Großaufnahme. Wenn der politisch-zeitgeschichtliche Kontext dann doch auftaucht, stört er. Die Verbrennung der rassehygienischen Unterlagen zu Hause wirkt wie eine Floskel. Die Plakatierung der Fotos von Leichenbergen wie eine Belegszene. Anders gesagt: die Großaufnahme ist pure Gegenwart. Sie narrativ und moralisch einzuhegen ist heikel – und führt immer wieder zu plumpen Kunstgriffen, gegen die Logik des Bildes. Etwa, wenn der Bergbauer mit Klumpfuss davon spricht, dass die Eltern jetzt seien, wo sie hingehörten: im Gefängnis. Falsch adressiert. Oder wenn auf den erwähnten KZ-Bildern ausgerechnet der Vater zu sehen ist.

Die Handlung ist einsilbig. Additiv. Kaum eines der Erlebnisse hat Konsequenzen für die nächste Episode. Das bedeutet auch, dass Lore, die Hauptfigur, nicht wirklich an Tiefe gewinnt. Der Film hat kein szenisches Gedächtnis über die Maske hinaus. Das ist das größte Versäumnis des Films, finde ich. Wer ist Lore eigentlich? Der Eindruck von Reife am Ende bleibt sehr allgemein, durchaus auch, weil die Sprech-Regie oft vage ist.

Ich kann den Film empfehlen für seine Entdeckungen. Manches Gesicht, manche Landschaft, auch wenn sie vertraut sind, lernt man neu sehen.

6 Kommentare:

  1. Du hast es sehr vorsichtig formuliert. Mich hat der Film wegen der unseligen Kreuzung aus platter Motivierung, überdeutlichen Gegensätzen und der von dir zurecht herausgestellten Werbeästhetik ganz schön gestört. Komischerweise blieb das ganze Geschehen dadurch für mich seltsam unwirklich, ein böses Märchen aus einem Land, das es so nur in bösen Träumen gegeben hat. Der Versuch, bei diesem Thema alles über Bilder und Schauspielerei zu erzählen, grenzt an die Unterschlagung der bekannten Zusammenhänge. Die Perspektive eines Kindes zugrunde zu legen, das die Verantwortung für eine Familie übernimmt, ist auch einer dieser plumpen Kunstgriffe, von denen Du sprichst. Das mag in der literarischen Vorlage bereits angelegt sein, hat mich aber nicht überzeugt. Just another nice looking Nazi-film.

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  2. Hochhäuslers schärftstes Verdikt über Claire Shortland und "Lore" lautet "Werbe-Ästhetik". Doch dieser Vorwurf - und auch weitere Kritikpunkte - gehen in diesem Fall fehl.
    Werbung verkauft hauptsächlich auf zwei Weisen: entweder relativ unbewegt, weil sie auf das überwältigende Objekt konzentriert ist (viele Autowerbungen sind so) oder sie verkauft ihr Objekt durch viel Bewegung als unbedingt notwendig zum life-style der atemlos-hippen Fröhlichkeit, die durch Waren erzeugt wird. Das geschieht dann durch schnellen Schnitt, der die Bewegung erzeugt, nicht aber durch eine Kamera, die so nah an die Dinge herangeht, dass deren Konturen sich auflösen und ein sensualistisches Eigenleben entsteht. Denn die Ware muss das Objekt bleiben, das klar erkennbar ist.
    Die Ästhetik von Lore sehe ich auch nicht als „ästhetischer Pantheismus“ am Werk“. Hier geht es um die Rettung einer Erlebnisperspektive, die sich nicht aus der Story herleitet. Natürlich hat Lore andere Sorgen als die Schönheit der Welt. Aber es geht ja gar nicht um deren Schönheit. Die Welt ist da als physischer Widerstand für diese Kinder, die aber von den Kindern, für die ja Matsch und Schlamm nicht nur widerlich oder hinderlich sind, sondern Elemente von denen sie sich herausgefordert fühlen, zu gestalten, anders erlebt wird, als von einem Erwachsenen, der auf sein Ziel hindenkt. Es ist die Perspektive von Lores notwendig verdrängter Kindheit, weil sie ganz schnell Verantwortung übernehmen muss.
    Die Großaufnahmen, mit denen ganz nah an Menschen, Tiere und Objekte herangegangen wird, sind nicht Teil einer klassischen Narration, die sorgfältig die Funktionen der verschiedenen Typen von Aufnahmen unterscheidet. Es geht in „Lore“ darum, dass hier die Welt auseinandergefallen ist in die physische Oberfläche der Objekte, das einzige, was diese Kinder wirklich erfahren, und einen größeren politischen Zusammenhang, der unbegriffen auftaucht wie es die Spitzen der Eisberge im Wasser tun. Auch die Älteste, Lore, versteht nur mühsam und es gelingt ihr nicht, diese beiden Sichten zu integrieren. Deshalb ist auch die Bemerkung des Bergbauern nicht „falsch adressiert“, weil es hier keinen repräsentativen Zusammenhang zwischen der Logik der Bilder und der der Sprache gibt.
    In dieser Sicht ist der Film modern und mir würde als malerische Referenz keinesfalls ein holländisches Stilleben in seiner in sich geschlossenen Vollkommenheit, die symbolische für die Schöpfung steht, einfallen, sondern eher die verdrehten Akte der Moderne von z.B. Lucian Freud. Es ist seine Modernität, dass er keine „Reife“ behauptet, wo es keine geben kann, denn es geht hier um das pure Überleben. Unter diesen Umständen kann man seine Kindheit verlieren, aber das bedeutet nicht: „reifen“.
    Der Film ist eine radikale Absage an das repräsentative Modell objektiver Weltdeutung, in dem es eine Entwicklung gibt und in dem sorgfältig eine Szene auf der anderen aufbaut.
    „Lore“ ist ein schwarzes Kindermärchen, das den Blickwinkel seiner Protagonisten nie überschreitet. Die Tiefe und die Entwicklung, die Hochhäusler bei seiner Konkurrentin Shortland am Ende schmerzlich bei Lore vermisst, kann sich in diesem Dickicht der Lügen und übermächtigen Konventionen gar nicht erst einstellen. In ihrer Skepsis gegenüber einem radikalen Neuanfang ist Shortland konsequent, für viele Rezensenten wahrscheinlich unerträglich konsequent.

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  3. Interessantes Interview mit Cate Shortland:

    http://www.littlewhitelies.co.uk/features/interviews/cate-shortland-23241

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  4. Lieber Cecil, danke für deinen Kommentar. Was du über „Werbeästhetik” schreibst - ein Wort, das in meinem Text nicht auftaucht - leuchtet mir nicht ein. Du schreibst „Die Ware muss das Objekt bleiben, das klar erkennbar ist”. Meiner Meinung nach dreht sich gerade audiovisuelle Werbung heute kaum mehr um das Produkt als Fetisch, sondern versucht, die Marke zu verbinden mit (bereits vorhandenen) Gefühlen des Zuschauers. Dafür ist Intensivierung, Sensualismus, Kamera-Impressionismus von zentraler Bedeutung. Entscheidend ist für mich aber nicht die Tatsache, dass diese Stilmittel durch die Verwendung in der Werbung verbraucht sein könnten, als vielmehr die verwandte Strategie, Ereignisse mit „objektiven” Sensationen (die Schönheit der Welt: Wind in den Haaren) aufzuladen, ohne den Ereignisse selbst gerecht zu werden. Ich habe das an anderer Stelle schizo-filmmaking genannt. Die Reizketten, die Shortland organisiert, führen zu einer Atomarisierung der Erzählung, lassen sich narrativ kaum mehr hierarchisieren. Jedes Bild hat sein eigenes Recht ... Du hältst diese Grammatik für radikal und der Geschichte angemessen, ich glaube, es ist, in letzter Konsequenz, eine Masche, die Unterscheidungsmöglichkeiten ohne Not verschenkt. usw. Grüße, Christoph

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  5. Lieber Christoph,

    in der Werbung gibt es doch große Unterschiede, in welcher Weise ein Produkt zum Zentrum des Begehrens gemacht wird. Etwas zum Fetisch zu machen, ist bei Autos möglich, nicht aber bei Deos oder Schokoriegeln. Und um diesen Makel zu beheben, werden solche Produkte mit „objektiven Sensationen“ aufgeladen, wie Du es nennst, darin folge ich Dir ganz sicher. Aber Du sprichst auch richtig von „der Schönheit der Welt“, die hier zur Verkaufsargument wird. Die verträgt keine Ambivalenz. Die zum Kauf animierende Botschaft darf nicht gestört werden. Aber eine solche Ambivalenz findest Du fast in jeder Einstellung von Shortlands Film. Ihre zwiespältigen Sensationen kippen ständig, man weiß nie, in welchen Abgrund an sonnendurchfluteter Grausamkeit man im nächsten Moment fällt. Ich wäre bereit, über die Ökonomie dieses Verfahrens kritisch zu sprechen, aber nicht über seine Gültigkeit. Du nennst das „Atomarisierung der Erzählung, die sich narrativ kaum mehr hierarchisieren lässt.“ Genau darum geht es doch! Nach meiner Überzeugung besteht darin Shortlands Leistung. Über einen Moment der Geschichte, in dem alle Hierarchien zusammengebrochen sind, wird nicht hierarchisch „richtig“ erzählt. Das hätte geheißen, eine Perspektive außerhalb der Erzählzeit und außerhalb des Bewusstseins ihrer Protagonisten einzunehmen. Nur aus der Distanz kann man hierarchisch erzählen und ein Ergebnis erzielen, das im cineastisch besten Fall Qualitätskino fürs Arthouse geworden wäre. Diese Art von Film aber steckt mit ihren Erzählperspektiven tief im 19. Jahrhundert.
    Stellen wir uns für einen Moment vor, ein Vertreter der als Schule bekanntlich nicht existenten Berliner Schule hätte sich der Deutschland-Reise von Lore und ihren Geschwistern angenommen. Das Ergebnis, ich wage es zu behaupten, wäre ernüchternd ausgefallen. Das politische Vakuum Deutschlands nach dem Tod Hitlers wäre – frei nach Franz Müller - als Leere in den Köpfen der Menschen begriffen und mit leeren Bildern beantwortet worden. Eingefrorene Gesten und erkaltete Blicke hätten Lores Handeln diktiert und begleitet. Die Angst vor einer falschen Bewegung hätte wie Mehltau über dem Film gelegen.
    Die unruhige, bewegte Film-Grammatik Shortlands und ihres jungen russischstämmigen Kameramanns Adam Arkapaw, - von Christoph abschätzig als Masche verdächtigt - bietet den unschätzbaren Vorteil, den Taumel der widerstreitenden Gefühle, in dem das NS-Täter-Mädchen Lore gerät, einigermaßen angemessen und wohltuuend anders abzubilden als in gängigen Filmsprachen, wenn es um die Darstellung der NS-Zeit geht.


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  6. Lieber Cecil,

    ich will dir die Begeisterung für den Film gar nicht nehmen, aber davon abgesehen, dass mir die sinnlichen Splitter bei Shortland nicht so frei erscheinen wie dir (frei im Sinne einer Poesie, die auf Wahrnehmungsschärfung aus ist), ist mir nach wie vor nicht klar, inwieweit die „Atomisierung” dem Stoff wirklich entgegen kommt. Die kaleidoskopische Weltschau bleibt doch letztlich nur dekorativ verbunden mit Lore, ihrem Denken und Fühlen. Wie eine „Einfühlung in die Desorientierung” überzeugender gestaltet werden kann (in einem völlig anderem Setting), zeigt für mich ein Film wie Lucrecia Martels LA MUJER SIN CABEZA (falls du ihn nicht kennst: unbedingt ansehen!). Was schliesslich die Spekulation über die Schwächen einer Verfilmung „im Stil der Berliner Schule” betrifft: das finde ich unredlich. Jeder Film verlangt nach einer eigenen Form, und die muss in der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand errungen werden. Grüße, C

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